Samstag, 8. Dezember 2007

Verordnetes Hungern in Gaza, die Armee in Indonesien: Über Logik und Aktivismus

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen schätzt, daß die im Zuge der israelischen Blockade stark reduzierten „Lebensmitteleinfuhren in den Gazastreifen nur ausreichen, um 41 Prozent des Bedarfs zu decken“. (Mit diesen Worten gab die UN-Nachrichtenagentur IRIN diese Einschätzung wieder; IRIN, Jerusalem, „Only 41 percent of Gaza’s food import needs being met“, 6. Dezember 2007.) Den Bewohnern des Gazastreifens werden also ungeheuerliche 59 Prozent der von ihnen benötigten Lebensmittel vorenthalten.

Bei Hunger leidenden Menschen kann schon eine nur geringfügig verminderte Nahrungsaufnahme wachstumshemmende oder tödliche Wirkung haben, vor allem bei Kleinkindern, deren Gehirn sich noch in der Entwicklungsphase befindet.

Die UN-Nachrichtenagentur IRIN meldet: „Die von Israel verfügten Reise- und Handelsbeschränkungen haben in Gaza zu einem Nachlassen der Kaufkraft geführt. Wie eine unlängst vom Welternährungsprogramm durchgeführte Umfrage ergab, hatten von jenen 62 Prozent der Befragten, die ihre Ausgaben in den vergangenen Monaten reduzieren mußten, 97 Prozent bei der Kleidung und 93 Prozent bei Lebensmitteln gespart.“

IRIN verweist auf den Fall von Naheda Ghabaien, „einer Mutter von fünf Kindern im Flüchtlingslager Shati in Gaza-Stadt“. Ihr Mann „hatte früher an drei bis vier Tagen in der Woche Arbeit und brachte dafür rund 10 US-Dollar pro Tag nach Hause“. Jetzt aber, nach Verhängung der Sanktionen, „hat er nur an ein paar Tagen im Monat Arbeit“.

Im Gegensatz zu so vielen anderen Menschen auf der Welt, deren Kalorienzufuhr gefährdet ist, wird der Familie Ghabaien wenigstens ein bißchen geholfen. Alle zwölf Wochen erhält sie von UNRWA, dem UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, „Zuteilungen von Reis, Mehl, Öl und Zucker, mit denen sie vier bis sechs Wochen auskommen kann. Fleisch ißt die Familie kaum noch; sie ernährt sich hauptsächlich von Gemüse.“

„Wenn uns die von UNRWA zugeteilten Lebensmittel ausgehen“, so Naheda Ghabaien nach dem IRIN-Bericht, „dann kaufen wir das Notwendige im Lebensmittelgeschäft ein und lassen anschreiben. Wenn mein Mann Arbeit hat, gehen seine Tageseinnahmen größtenteils für die Schuldentilgung drauf.“

Die Nachrichtenagentur berichtet außerdem: „Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sagen, daß Behelfsmechanismen dieser Art an ihre Grenzen stoßen.“ Bald werde es den schon jetzt unter großen Entbehrungen leidenden Bewohnern Gazas nicht mehr möglich sein, auf diese Weise an Lebensmittel heranzukommen.

Die israelische Regierung sagt, die von ihr verhängten Sanktionen seien legal. Sie stellen also nach Israels Dafürhalten keine unverhältnismäßige Vergeltung und somit auch kein Kriegsverbrechen dar. Daraus folgt logischerweise, daß das Vorenthalten von Nahrung und anderen Dingen nach israelischem Verständnis nicht schlimmer ist als der vom Gazastreifen ausgehende Raketenbeschuß.

Nun, wenn das so ist, dürfte Israel gegen einen kleinen Rollentausch ja nichts einzuwenden haben: Sagen wir, Gaza erhält die Macht und das Recht, den Israelis praktisch 59 Prozent ihrer Nahrungsmittel vorzuenthalten (und überdies nach Belieben ihre Strom- und Benzinversorgung zu unterbinden, ihr Kommunikationswesen lahmzulegen, ihren medizinischen Nachschub zu blockieren, ihr Recht auf Freizügigkeit außer Kraft zu setzen, ihren Luftraum zu sperren und so weiter); die Israelis erhalten im Gegenzug das Recht, den Gazastreifen in dem Maß mit Raketen zu beschießen, wie Israel von dort beschossen wird, was bedeutet, daß im Durchschnitt alle vier Monate einmal der Tod eines Zivilisten zu beklagen sein wird.

Würde die israelische Regierung auf dieses Angebot eingehen, das ganz auf ihrer eigenen Rechtslogik basiert?

Natürlich nicht. Sie wäre auch schön blöd, wenn sie es täte. Israel nimmt für sich ohnehin das Recht in Anspruch, den Gazastreifen und andere Gegenden nach Belieben zu bombardieren und unter Granatenbeschuß zu nehmen. Für jeden getöteten israelischen Zivilisten tötet Israel ungefähr zehn palästinensische beziehungsweise arabische Zivilisten. (Zu der Statistik für die besetzten palästinensischen Gebiete siehe die Internetseite der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem, www.btselem.org.) Und außerdem: Ein Land, dem es einfiele, den Israelis mehr als die Hälfte ihrer Nahrungsmittel vorzuenthalten – mit Israel also umzugehen wie Israel derzeit mit dem Gazastreifen –, so ein Land würde von Israel und/oder den USA sofort dem Erdboden gleichgemacht.

Die Machtfülle des Machthabers zählt nun einmal mehr als seine eigene Rechtslogik. Dafür gibt es viele Beispiele.

In Indonesien, einem mehrheitlich muslimischen Land, das sich in bezug auf Israel kritisch gibt – dessen Killerstreitkräfte diskreter israelischer Hilfe aber keineswegs abgeneigt sind –, ist der Präsident, General Susilo, gerade dabei, den Heereskommandeur des Landes zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte zu machen, obwohl das Heer nach dem vorgesehenen Rotationsprinzip noch gar nicht wieder an der Reihe ist.

Reuters, Jakarta (28. November 2007), schreibt, Susilo wolle sich „mit diesem Schachzug nach Ansicht mancher Beobachter der Unterstützung des mächtigen Militärs vergewissern, weil im Jahr 2009 Wahlen anstehen“. (Siehe auch AFP, Jakarta, 6. Dezember 2007, wo dieselbe Schlußfolgerung gezogen wird.) In Jakarta weiß eben jeder mit dem Politikbetrieb vertraute Mensch: Wer Wahlen zu gewinnen hofft und regieren will, ist auf das Heer angewiesen.

Ein bißchen seltsam ist Susilos Schritt aber doch. Schließlich hatten die akademischen und politischen Apologeten des Regimes von Fortschritt und Reform gesprochen, als Indonesien vor ein paar Jahren damit begann, für den Posten des Oberbefehlshabers der Streitkräfte Männer auszuwählen, die nicht dem Heer, sondern der Luftwaffe oder der Marine angehörten.

Das Argument, das sie hierfür anführten, geriet allerdings zu einer unfreiwilligen Selbstanklage: Weil die meisten Zivilisten durch das Heer getötet worden seien – soweit korrekt –, würden die Dinge besser laufen, wenn fortan entweder die Marine (die in Timor nach dem Referendum von 1999 bei der Entführung von vielen zehntausend Menschen behilflich war und in diesem Jahr ein Massaker in Java veranstaltete [siehe Blogeintrag vom 13. November 2007, „Vomiting to Death on a Plane. Arsenic Democracy“]) oder die Luftwaffe (die Timor und Aceh bombardierte) beim Militär den Ton angäbe.

Ihre eigene Logik müßte diese Leute jetzt eigentlich zu der Feststellung veranlassen, daß die Ernennung eines Heeresvertreters einen Rückschritt bedeutet, doch werden sie diese Schlußfolgerung kaum ziehen. Der US-Kongreß ist nämlich gerade dabei, sich zu überlegen, wie viele Millionen genau er für ebendiese Streitkräfte locker machen will.

Eilige Erkundungen, die das US-Außenministerium in dieser Woche in Washington einholte, erweckten den Eindruck, es gäbe womöglich Pläne, unverdeckte Hilfe für Kopassus bereitzustellen – für jene Heereseinheit, deren Sadismus der berüchtigtste von allen ist und um deren Ausbildung sich die USA in all den Jahren ganz besonders intensiv gekümmert haben.

(General Prabowo – er ist der berüchtigtste aller Kopassus-Kommandeure, und das will was heißen – erhielt seine Ausbildung unter anderem in Fort Benning und Fort Bragg. Ungeachtet der Tatsache, daß das mörderische Treiben dieses Manns wohlbekannt war, wurde er einmal in einem US-Botschaftsmemo als Beispiel für den Erfolg der US-amerikanischen Schulungen genannt, und zwar insbesondere für den Erfolg des IMET-Programms („International Military Education and Training“). Prabowo beklagte sich gegenüber einem US-amerikanischen Gesprächspartner einmal darüber, daß ihm all das nicht nur Vorteile gebracht habe. Ein paar indonesische Generäle würden sich nämlich über ihn lustig machen, weil er so gut Englisch spräche. Für sie sei er nur „der Amerikaner“.)

Den US-Kongreß erreicht man unter der Telefonnummer 202-224-3121. Die Mitglieder des maßgeblichen Vermittlungsausschusses sind [in der Originalfassung dieses Blogeintrags] unten aufgeführt. Das „East Timor & Indonesia Action Network“, ETAN (http://etan.org/) hat Hintergrundinformationen zusammengestellt und bietet Aktionsvorschläge an. Es kann also gleich losgehen.

Mit Aktivismus läßt sich wirklich etwas bewegen: Wir haben die US-Exekutive (unter den Präsidenten Bush I. und Clinton) besiegt und durch die über den Kongreß erzwungenen Kürzungen der Militärhilfe unseren Teil dazu beigetragen, Suhartos Herrschaft zu beenden und Timor zu befreien.

(Suhartos alter Sicherheitschef, Admiral Sudomo, hat mal zu mir gesagt, Suharto habe sich deswegen nicht länger an der Macht halten können, weil die demonstrierenden Studenten in Jakarta nicht rechtzeitig und hinreichend unter Beschuß genommen worden seien. Sie, die Entscheidungsträger, hätten zu lange gezaudert, weil sie befürchteten, die US-amerikanische Hilfe, die ihnen schon nach dem im timoresischen Dili verübten Massaker von 1991 gekürzt worden war, werde sonst womöglich noch spärlicher fließen. Beim Verlassen seines riesigen Zementbunkerhauses – zum Zierat gehörten Fotos, die ihn zusammen mit dem US-amerikanischen Golfspieler Arnold Palmer zeigten – wurde mir klar, daß Sudomo nicht sonderlich darauf geachtet hatte, wem er das alles erzählte, denn als ich ging, drückte er mir ein Buch in die Hand, das mich für das, was ich in Dili und danach getan hatte, verurteilte.)

Daß diese durch Aktivismus errungenen Siege möglich waren, ist zum Teil darauf zurückzuführen, daß Indonesien auf der Washingtoner Prioritätenliste nicht sehr weit oben stand. Es war ein Land, mit dem hauptsächlich Bürokraten auf der mittleren Ebene befaßt waren; die hohen Tiere kümmerten sich um andere Killer. Daß die US-Konzernmedien während der neun Jahre, die wir erbittert für die Streichung der Militärhilfe durch den Kongreß kämpften, keine Notiz von uns nahmen, war einerseits frustrierend, andererseits vielleicht aber auch ganz gut: Die von Jakarta im Verein mit US-Konzernen und dem diplomatischen, militärischen und geheimdienstlichen Establishment der USA betriebene Gegenmobilisierung könnte sich dadurch verzögert haben; sie nahm nämlich erst 1994 ernstzunehmende Ausmaße an, als die Lobbygruppe „US-Indonesia Society“ (bei der auch General Prabowo mitmischte) und noch ein paar andere Initiativen ins Leben gerufen wurden.

Bei Israel-Palästina liegen die Dinge völlig anders. Regierung und Medien kennen kaum ein wichtigeres Thema, und die Gegenmobilisierung ist gewaltig. Wer hier engagiert auf einen Kurswechsel in der US-amerikanischen Politik hinarbeitet, bleibt nicht lange unbemerkt. Die maßgebliche Koryphäe auf diesem Gebiet ist der Politologe Norman G. Finkelstein, weswegen er oft verunglimpft wird. (Seine namhaftesten Kollegen, darunter Raul Hilberg und Avi Shlaim, loben ihn in den höchsten Tönen, während andere Leute gar nicht genug Lügen über ihn verbreiten können.) Er sieht bereits erste Anzeichen für ein allmähliches Umdenken in den USA, und zwar interessanterweise vor allem unter jüngeren US-amerikanischen Juden.

Macht ist eine Sache; Tatsachen und Logik sind eine andere. Man sollte diese Dinge nicht verwechseln.

Je eher die Leute auf unserer Seite vom Gewehr – da wo der Abzug sitzt – die Augen aufmachen und einfach mal hinsehen, desto eher werden die Leute auf der anderen Seite – da, wo die Kugeln und die Lebensmittelkürzungen rauskommen – davon verschont bleiben, daß ihnen durch einen gewaltsamen Tod für immer die Augen geschlossen werden.


Aus dem Englischen von Maren Hackmann

Originaltitel: „Imposed Hunger in Gaza, The Army in Indonesia. Questions of Logic and Activism”

by Allan Nairn, News and Comment, http://www.newsc.blogspot.com

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