Samstag, 26. Januar 2008

Die eingerissene Mauer von Gaza. Kluge, gerechtfertigte politische Gewalt

Samstag, 26. Januar 2008

Die eingerissene Mauer von Gaza. Kluge, gerechtfertigte politische Gewalt

Daß die Mauer zwischen dem Gazastreifen und Ägypten eingerissen wurde, ist zweifellos eine gute Sache und ein seltenes Beispiel für die moralische – und kluge – Anwendung von Gewalt in der Politik. (Zu der Logik, die hinter der israelischen Abriegelung des Gazastreifens steckt, und deren Folgen siehe Blogeintrag vom 7. Dezember 2007, „Imposed Hunger in Gaza, The Army in Indonesia. Questions of Logic and Activism”; deutsch: „Verordnetes Hungern in Gaza, die Armee in Indonesien: Über Logik und Aktivismus“.)

In den allermeisten Fällen von politischer Gewalt – zum Beispiel bei Mord oder ungerechtfertigtem Krieg – handelt es sich eindeutig um Unrecht. Aber manchmal ist der Rückgriff auf Gewalt als letztes Mittel durchaus gerechtfertigt, sosehr wir es auch bedauern mögen, sosehr es uns auch anwidern mag. Und für diese Kategorie von Gewalt gibt es auch noch eine Unterkategorie: jene Gewalt nämlich, die nicht nur gerechtfertigt, sondern obendrein taktisch klug ist.

Morde, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind indiskutabel, doch kommt es in anderen Zusammenhängen durchaus vor, daß die eine oder andere Art von Gewaltanwendung zumindest bedenkenswert erscheint. In solchen Fällen gilt es sorgsam abzuwägen.

Was nun die eingerissene Mauer von Gaza betrifft, so bedarf es keiner großen Debatte, um festzustellen, ob die Gewaltmaßnahme berechtigt war: Kein Mensch wurde getötet; vielmehr dürfte manch einer vor dem Tod bewahrt worden sein. Außerdem gelang es mit dem spektakulären Exodus nach Ägypten, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf ein himmelschreiendes Unrecht zu lenken.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß es ausgerechnet die Hamas war, die so etwas zustandebrachte. (Zumindest wirkten einige Hamas-Leute an der Aktion mit – auf welcher Ebene, ist noch unklar.) Schließlich ist die Hamas eine Bewegung, die mit ihren Bombenanschlägen auf israelische Zivilisten unmoralisch, kriminell und taktisch dumm agierte, womit sie nur erreichte, daß die Unterdrückten in den Augen vieler zu Unterdrückern wurden; manche Opfer wurden dabei auch tatsächlich zu Mördern.

Doch diese Gewalt, die sich gegen nichts weiter als eine Mauer richtete, diese Gewalt war gut und richtig, ein wahrer Geniestreich. Einigen der bei der israelischen Armee, beim Shin Bet, beim Mossad oder im Kabinett dienenden Killer dürfte – der Legende von den allwissenden israelischen Geheimdiensten zum Trotz – für einen Moment der Schreck in die Glieder gefahren sein. Manch einer wird gar nicht gewußt haben, wie ihm geschah.

Immerhin war dies der erste große kluge Schritt der Palästinenser seit der David-und-Goliath-Intifada, bei der Israel vor 20 Jahren Panzer und wohlbewehrte Soldaten gegen steinewerfende Jugendliche einsetzte. Auf diese Weise gelang es den Palästinensern damals, die Besatzer vorzuführen und das israelische Regime in die Defensive zu drängen. (Nicht, daß dieser Zustand lange genug anhielt, um seine volle Wirkung zu entfalten. Die Friedensnobelpreisträger Rabin und Arafat ließen es nicht dazu kommen. Rabin gab den Befehl zum Knochenbrechen – „Gewalt, Macht und Prügel“ sollten die Palästinenser zu spüren kriegen –, woraufhin Israel eine Zeit lang noch schlechter aussah. Doch dann zog Arafat die jugendlichen Davids aus dem Verkehr, weil sie ohne seine Erlaubnis am Gewinnen waren.)

Fassungslosigkeit und Entsetzen machten sich auch in den Räumen der armen Washington Post breit.

Am Ende fiel ihr nichts Besseres ein, als der Hamas die „Ausnutzung des einstweiligen Brennstofflieferstops“ vorzuwerfen – weil nämlich die Hamas die Bevölkerung über diese israelische Maßnahme unterrichtete. (Ist die Information der Öffentlichkeit nicht etwas, was Zeitungen unterstützen sollten?) Außerdem scheint die Logik ihrer Ausführungen keinen anderen Schluß zuzulassen, als daß sie nun auch noch den Darfur-Flüchtlingen ihre Rechte absprechen will. („As thousands stream across the border to Egypt, Hamas blockades the peace process“, Washington Post, 24. Januar 2008.)

Die Washington Post fragte rhetorisch: „Würde Mubarak es Zehntausenden von Darfur-Flüchtlingen erlauben, vom Sudan aus – wo es eine echte humanitäre Krise gibt – illegal nach Ägypten einzureisen?“ Die realistische und (für Mubarak) schändliche Antwort lautet natürlich „Nein“. Also soll Mubarak mit den ungebetenen Gästen aus dem Gazastreifen doch bitteschön genauso übel umspringen, findet jedenfalls die Washington Post.

Damit die Palästinenser draußen (oder, besser gesagt, eingesperrt) bleiben, sollen also auch die Darfur-Flüchtlinge abgewiesen werden?

Wer mit solchen Argumenten ankommt, der weiß wohl selbst nicht mehr, womit er seine Sache noch verteidigen soll.

Wie wär’s denn, wenn ein paar Palästinenser beschlössen, auch in die Mauer im Westjordanland eine Bresche zu schlagen? Wenn, sagen wir, Zehntausende Teenager eines Morgens bei Tagesanbruch mit Spitzhacken und Brechstangen zur Stelle wären?

Würde die israelische Armee Menschenleben auslöschen, um Beton zu retten?

Wahrscheinlich schon.

Sie meint ja, das sei ihr gutes Recht.

Chaim Ramon drückte es folgendermaßen aus: „Wir haben das Recht, alles zu zerstören“ (Gideon Levy, „Little Ahmadinejads“, Haaretz, 10. Juni 2007). Diese Äußerung tat der damalige israelische Justizminister zwar im Hinblick auf den Libanonkrieg von 2006, in dessen Verlauf rund 1.000 libanesische und 40 israelische Zivilisten getötet wurden und die israelische Armee mittels ihrer größtenteils aus den USA bezogenen Streubomben rund vier Millionen Minibomben über dem Südlibanon verteilte. Es könnte sich bei Ramons Ausspruch aber ebensogut um eine Beschreibung der Moral- und Strafrechtsphilosophie des heutigen israelischen/US-amerikanischen Establishments handeln, einer Philosophie, die, wenn es um Israel geht, auch in der israelischen/US-amerikanischen Gesellschaft großen Anklang findet.

Aber wenn die Armee das machen würde, wenn sie wirklich das Feuer eröffnete, dann wäre in der israelisch-palästinensischen Geschichte ein neues Kapitel aufgeschlagen. Viele Palästinenser würden dabei ums Leben kommen, wie immer, doch wäre ihr Tod in diesem Fall vermutlich nicht sinnlos: In aller Welt – auch in den USA – würde man begreifen, wer hier wen unterdrückt.

Übrigens brachte die führende israelische Zeitung, Haaretz, unlängst eine hieb- und stichfeste Kritik an Israels sicherheitspolitischem Argument für den riesigen Sperranlagenkomplex, der im Westjordanland Dörfer abgeriegelt und in der hoch aufragenden Mauer seine Vollendung findet.

Wegen der Absperrungen müssen die Palästinenser Umwege in Kauf nehmen, die sie viel Zeit kosten, Zeit, in der manch einem die Kräfte schwinden, manch einer im Krankenwagen stirbt. Begründet werden diese Maßnahmen offiziell damit, daß jemand, der vorhabe, andere Leute und sich selbst in die Luft zu sprengen, auf diese Weise an der Begehung von Mord beziehungsweise Selbstmord gehindert werde. An und für sich wäre das eine gute Begründung.

Die Haaretz-Reporter fanden jedoch heraus, daß – unglaublich, aber wahr – 475 der 572 Straßensperren unbewacht sind, woraufhin sich ihnen ein paar Fragen aufdrängten: Wie bitte? Selbstmordattentäter sollen hier nicht durchkommen können? Sie sollen weder willens noch in der Lage sein, über die unbewachten Absperrungen zu klettern, mit denen normale Leute (und Krankenwagen) am Durchkommen gehindert werden?

Der Haaretz-Analyst gelangte zu dem naheliegenden Schluß, daß die Abriegelungen in Wahrheit einem ganz anderen Zweck dienen:

„Will hier wirklich irgend jemand ernsthaft behaupten, ein Erdwall, ein Graben oder eine Reihe von Betonklötzen sei für einen Terroristen ein unüberwindbares Hindernis? Erfüllen diese Absperrungen irgendeinen anderen Zweck, als den Palästinensern das Leben schwer zu machen? Den Kranken und Alten, den schwangeren Frauen und allen, die sich vielleicht gerade mit Einkaufstaschen abschleppen, wird das Verlassen ihrer Dörfer und Städte beziehungsweise der Nachhauseweg mit diesem Hindernislauf zweifellos erschwert. B’Tselem und die Organisation „Ärzte für Menschenrechte“ haben einige Fälle dokumentiert, in denen Kranke unversorgt blieben, weil ihnen der Weg zum Arzt beziehungsweise zur Klinik versperrt war. Hingegen dürfte es jemandem, der einen Terroranschlag plant, nicht allzu schwer fallen, über die Erdwälle hinwegzuklettern, die Gräben zu überqueren und die Betonklötze zu umgehen …“

„Keiner meiner Gesprächspartner hatte“, so der Autor Daniel Gavron weiter, „ein schlagendes militärisches Argument für die unbewachten Straßensperren parat. Vielmehr legten Leute, die mit dem Denken des israelischen Militärs vertraut sind, mir gegenüber überzeugend dar, daß die Absperrungen in erster Linie der Zersplitterung des Gebiets dienen, womit die Gründung eines ‚zusammenhängenden palästinensischen Staats’, für den US-Präsident George Bush kürzlich warb, unmöglich wird. Dafür, daß die unbewachten Straßensperren die Sicherheit der Israelis in Israel oder auch nur die Sicherheit der jüdischen Siedler in den palästinensischen Gebieten erhöhen, gibt es nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, keinen Anhaltspunkt.“ (Daniel Gavron, „Start with the unmanned roadblocks!“, Haaretz, 23. Dezember 2007; der Autor verweist auch auf frühere Haaretz-Berichte.)

Bei den von palästinensischen Fußgängern verübten Bombenanschlägen ist zwar im Gegensatz zu den von israelischen Fliegern verübten tatsächlich ein Rückgang zu verzeichnen. Das dürfte aber, wie die erfahrene israelische Korrespondentin Amira Hass schreibt, andere Ursachen haben als die Mauer und die übrigen Absperrungen. (Siehe Amira Hass, „Where are the suicide bombers?“, Dezember 2007, Kibush.co.il, aus dem Hebräischen ins Englische übersetzt von George Malent. Täglich gelingt es einigen verzweifelten Palästinensern, die Mauer zu überwinden, um in Israel zu arbeiten, schreibt Hass. Wenn ein Arbeitsuchender das schafft, dann wird jemand, der aus persönlichen oder politischen Gründen ein Selbstmordattentat verüben will, das wohl auch schaffen können.)

Im übrigen hat der Internationale Gerichtshof die Mauer für völkerrechtswidrig erklärt. Ebenso unglücklich wie über die Mauer sind die Palästinenser verständlicherweise über die gleichfalls völkerrechtswidrigen Siedlungen und die ganze illegale Besatzung. Nichts wäre der Sicherheit Israels förderlicher als ein Abriß der israelischen Mauer, eine Räumung der israelischen Siedlungen und ein Ende der israelischen Besatzung.

Wie es scheint, will das israelische Regime aber partout, daß ständig Krieg in der Luft liegt, bildet doch die Kriegsgefahr den Nährboden für die politische Kultur des Landes.

Dagegen ist nichts zu sagen – was die Israelis wollen, ist ihre Sache.

Sie haben aber kein Recht, anderen Leuten ihren Willen aufzuzwingen.

Das gleiche gilt natürlich für die Palästinenser. Sie haben ein Recht auf die Durchsetzung ihrer Rechte, weiter nichts.

Und weil eine der beiden Seiten diese illegale Mauer einreißen muß und Olmert keinerlei Anstalten dazu macht, wäre es doch eine gute Sache, wenn ein paar palästinensische Teenager ihm ihre Dienste anböten.

Er kann sich ja mit ihnen treffen, dort, an der Mauer, bei Tagesanbruch.

Sagt ihm, er soll eine Spitzhacke mitbringen.


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Aus dem Englischen von Maren Hackmann

Originaltitel: „The Breaking of the Gaza Wall. Wise, Justified Political Violence”

© 2008 by Allan Nairn

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